Zum Wiedereinzug der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in das Langenbeck-Virchow-Haus

Prof. Dr. med. K. SCHÖNLEBEN, Ludwigshafen
Präsident der DGCH

Herr Vorsitzender,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ihnen, Herr Vorsitzender, und dem Vorstand der Berliner Chirurgischen Gesellschaft möchte ich im Namen von Vorstand und Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sehr herzlich dafür danken, dass Sie mit Ihrem 25. Berliner Chirurgentreffen den Rahmen bieten, in welchem wir den Wiedereinzug unserer Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in ihr Mutterhaus wirkungsvoll zur Darstellung bringen können. Ihre Tagung steht zwar unter dem Leitthema „Chirurgie im Greisenalter”, ich hoffe aber nicht, dass Sie damit auf die nunmehr 130-jährige Tradition unserer Gesellschaft abheben wollten.

Gerade auf diese gediegene Tradition sind wir ja stolz und wollen aus ihr auch die Kraft für unsere Zukunft schöpfen. Auf unsere Pläne für die nächste Zukunft werde ich gleich noch zu sprechen kommen.

Es erfüllt mich schon mit Stolz, dass ich in dieser historischen Stunde unsere Gesellschaft als derzeitiger Präsident vertreten darf, andererseits fühle ich – in wohl temperierter Bescheidenheit natürlich – eine gewisse Seelenverwandtschaft zum großen Adolf von BARDELEBEN. Er war Präsident, als die Gesellschaft 1892 in das erste von Langenbeck-Haus einzog, und er sagte bei seiner Eröffnungsansprache:

„Sie werden es begreiflich finden, hochzuverehrende Anwesende, wenn vor dieser glänzenden Zuhörerschaft mich eine Bangigkeit beschleicht und die Frage sich mir aufdrängt, ob die geehrten Berufsgenossen die Wahl zum Vorsitzenden der Gesellschaft nicht auf ein anderes Mitglied gelenkt haben würden, wenn sie hätten voraussehen können, dass… der Einzug in dieses Haus in dieser Jahresfrist gelingen werde.” Er sagt weiter: „Da mir nun aber die Ehre zugefallen ist, mit dem Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie auch die Pflicht zu übernehmen, die Einweihung dieses Hauses zu übernehmen, darf ich Sie wohl bitten, mir nachsichtig zu gestatten, dass ich einiges mit schlichten Worten kurz erläutere.”

In der Tat ziehen wir ja zum zweiten Mal in ein und dasselbe Haus ein. Dieser vermeintlich gleiche Vorgang hat jedoch erheblich unterschiedliche Vorzeichen:

Im Jahr 1915, als dieses Haus neu fertig gestellt war, zogen wir ein als stolze Erbauer und Besitzer respektive Mitbesitzer zusammen mit der „Berliner Medizinischen Gesellschaft”.

Heute ziehen wir ein als Mieter – zusammen mit unserem jüngeren, aber groß gewachsenen Bruder – dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen. Das ist leider keine unerklärliche Groteske, sondern eher eine der noch geringeren, aber doch unglücklichen Folgen unserer jüngeren Historie mit ihren kriegerischen, politischen und ideologischen Irrwegen. Die letztlich noch ungeklärten Besitzverhältnisse mindern aber nicht die symbolische Kraft, die dieser Wiedereinzug ausstrahlen kann.

Unser altes und neues chirurgisches Haus steht in unserer alten und neuen deutschen Hauptstadt und damit im Epizentrum zukünftiger politischer und sozialer Entwicklung. Hier hat sich im Makrokosmos der Politik die Einheit der beiden deutschen Staaten vollzogen – die endgültige Einigkeit möge der Einheit noch folgen. Gleiches kann für den – vergleichsweise – Mikrokosmos unserer chirurgischen Gesellschaft gelten, aber auch wir müssen Einheit und Einigkeit nicht nur wollen, sondern auch betreiben. Dazu gehört es in erster Linie, „Friedhöfe anzulegen”. Friedhöfe für ideologische Ressentiments, engstirnige Partikularinteressen, für egoistische Machtverliebtheit und für unangebrachten Profitgeist. Belebt dagegen werden müssen die kluge Einsicht, die entwicklungsbewusste Weitsicht, das Bewusstsein um unsere ärztlichhumanitäre Pflicht, aber auch die Energie, unser sozialpolitisches Umfeld selber mitgestalten zu wollen.

Keinesfalls möchte ich den Anspruch erheben, dass diese Gedanken und Forderungen neu sind – ich gehe sogar davon aus, dass Ähnliches oder Gleiches jeder denkt, dem die Zukunft der Medizin am Herzen liegt.

Dazu sei auf den Genius loci im wahrsten Sinne des Wortes verwiesen: Auf Rudolf VIRCHOW.

Rudolf VIRCHOW hat schon vor mehr als 100 Jahren zum 25. Jahrestag der Berliner Medizinischen Gesellschaft folgenden Appell an uns Ärzte gerichtet:

„Wenn die Ärzte eine freie Stellung halten, annehmen und behaupten wollen, dann bedarf es allerdings einer starken Vereinigung, dann können sie nur Schutz finden in einer großen Assoziation, einer Assoziation, welche wirklich getragen wird von der energischen Mitwirkung ihrer Mitglieder.”

Dieses Zitat Virchows hat Ernst von BERGMANN in seiner Rede zur Einweihung des alten Von-Langenbeck-Hauses im Jahre 1892 als zukunftsweisende Maxime eingeflochten.

Wir sind aber VIRCHOWs so zeitlosem Postulat bisher nur unvollständig gefolgt. Das nicht nur deshalb, weil der enorme wissenschaftliche Fortschritt unsere ärztlichen Aufgaben und therapeutischen Möglichkeiten polypragmatisch aufgefächert hat, sondern auch, weil das allzu Menschliche uns niemals fremd geblieben ist.

Das soll uns aber nicht am optimistischen Blick nach vorne hindern. Optimismus muss zwar derzeit nicht überschäumen, weil dirigistische Reformierungen in unserem Gesundheitswesen eher krisenhafte Deformierungen unserer ärztlichen Aufgaben erwarten lassen. In jeder Krise liegt aber auch eine Chance. Und die Chance für unser Fach und damit auch für unsere wissenschaftlichen und berufspolitischen Gesellschaften liegt darin, dass man erkennt, wie überlebenswichtig gemeinsamer Schulterschluss ist. Nicht nur die nationale Sozialgesetzgebung, sondern auch die Vorgaben für das Zusammenwachsen Europas werden unser Gesundheitswesen ändern und damit auch unseren chirurgischen Gesellschaften neue Strukturen abfordern. Die Elfenbeintürme traditionalistischen Verharrens müssen aufgebrochen werden, um zeitgemäßen Konzepten Eingang zu verschaffen.

Ich hoffe jetzt nicht, mich in eine allzu optimistische Prognose zu versteigen, aber ich fühle die Berechtigung, sagen zu dürfen, dass die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie die Zukunft meistern wird.

Ihre derzeitigen Repräsentanten – und dazu zähle ich ausdrücklich auch die integrierten Vertreter der Fach- und Schwerpunktgesellschaften und des Berufsverbandes – haben die Zeichen der Zeit erkannt. Unsere Gesellschaft ist gerade dabei, sich eine neue, eine zeitgerechte Struktur zu geben, in welcher alle chirurgischen Spezialitäten gleichberechtigt ihren Platz finden werden.

Die ersten gemeinsamen Projekte sind schon wirksam im Gange, als Beispiel darf ich die querschnittsbesetzte Weiterbildungskommission zusammen mit dem Berufsverband nennen. Durch ihre gemeinschaftliche Arbeit werden die Weichen für die fachliche Zukunft unserer nächsten Chirurgengeneration gestellt.

Die Initialzündung für die Realisierung von Einigkeit und Einheit in unserem Fach soll der gemeinsame Wiedereinzug in dieses Mutterhaus der Deutschen Chirurgie sein. Ich sehe darin nicht nur administrativen Pragmatismus, sondern auch ein Bekenntnis zur gemeinsamen Wurzel der chirurgischen Wissenschaft. Es schmälert unser Zukunftstrachten keineswegs, wenn wir damit auch stolz unserer Tradition huldigen. Schließlich wurde dieses Haus ja sogar in seiner baulichen Konzeption als Denkmal errichtet. Als Denkmal für zwei große deutsche Ärzte: Für Bernhard von LANGENBECK und Rudolf VIRCHOW.

Mit dem Einzug in ein eigenes chirurgisches Haus hat man schon 2-mal die Metapher verbunden, dass in der Geschichte unserer Gesellschaft „ein Markstein” gesetzt worden ist.

Das erste Mal im Jahr 1892 bei der Einweihung des alten Von-Langenbeck- Hauses, als Ernst von BERGMANN hervorhob, dass die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie als erste deutsche wissenschaftliche Vereinigung ein eigenes Vereinshaus besaß. Das zweite Mal war es August BIER, als er 1920 den ersten Chirurgenkongress nach dem Weltkrieg hier in diesem Haus eröffnete.

Ich werde es mir natürlich nicht anmaßen, jenen chirurgischen Heroen nacheifernd, die Metapher „einen Markstein setzen”, ein drittes Mal zu bemühen. Es wäre aber wünschenswert, wenn in nicht allzu ferner Zukunft einer sagen würde:

„Mit dem Wiedereinzug ins Von-Langenbeck-Virchow-Haus wurde ein Markstein in der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie gesetzt”.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Klaus SCHÖNLEBEN
Klinikum der Stadt Ludwigshafen GmbH
Bremserstraße 79
D-67063 Ludwigshafen

Aus: DGCH – Mitteilungen 3/01 S.169-170
mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie